"Die Kostümbildnerin zuckt mit den Achseln. Das Landestheater Schleswig-Holstein hat 381 Mitarbeiter, 25 arbeiten in der Schneiderei, ein paar von ihnen stehen um Cemore herum. Der Gewandmeister passt die Uniform an.
»In Saarbrücken«, sagt Cemore, »da hatten wir einen Schuhmacher, der hat maßgefertigte Schuhe gemacht.«
Der Gewandmeister steckt den Kragen ab. Cemore sagt: »In Wiesbaden gab es einen Rüstmeister, der einem gezeigt hat, wie man mit Waffen umgeht. Die Bühne ist gefährlich.«
Der Gewandmeister geht auf die Knie, mit Kreide markiert er am Hosenbein den Saum. Nabucco sagt: »In Bremen hatten wir jemanden, der nur Pyrotechnik gemacht hat, alles mit Schießen und Feuer.«
Der Gewandmeister rutscht auf dem Boden um Cemore herum. Dabei platzen ihm die Jeans an beiden Knien auf. »Scheiße«, sagt der Gewandmeister, »die waren neu.« Cemore sagt: »Die deutsche Stadttheater-Tradition ist wunderbar, es wäre schade, wenn das verloren ginge.«
Alan Cemore ist ein Italoamerikaner aus Wisconsin in den USA, er spricht ein sorgfältiges, von der Lektüre zahlloser Libretti geprägtes Deutsch. Wenn er »Die deutsche Stadttheater-Tradition ist wunderbar« sagt, klingt das wie der Traum eines Integrationsbeauftragten. Für Opernsänger ist Deutschland der wichtigste Arbeitsmarkt, jede siebte Oper weltweit steht hier, die Ensembles sind internationaler besetzt als die Vorstände von Dax-Unternehmen. Im Flensburger Nabucco stammen fünf von acht Solisten aus dem Ausland, im Chor sind es 16 von 23.
Vielleicht hätte ein Sänger mit wohlklingendem Bariton wie Cemore auch in Amerika bleiben können, bloß gibt es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine begrenzte Anzahl von Opernhäusern. Als er sich an der San Francisco Opera vorstellte, riet man ihm: Wenn Sie die Chance haben, gehen Sie nach Wiesbaden! Das war vor 24 Jahren, seitdem hat Cemore überall in Deutschland gesungen. Saarbrücken, Münster, Bremen, Flensburg, sein Lebenslauf klingt wie der Fahrplan eines Intercitys.
Seit einigen Jahren beobachtet Cemore Verfallserscheinungen. Früher traten Sänger und Chor in prächtigen Gewändern auf, heute stammt die Kleidung manchmal von H&M und anderen Billigläden. In Flensburg gönnt man Cemore nicht einmal eine Perücke. Warum auch? Cemore hat einen kurz geschorenen Charakterschädel, das passt auch zum babylonischen Diktator Nabucco. Unter der Uniform trägt er ein grünes T-Shirt, in seiner Freizeit trainiert er das örtliche American-Football-Team, die Flensburg Sealords.
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Wie Nabucco in Flensburg inszeniert wird, ob in den hängenden Gärten von Babylon oder im Big Brother-Container, das ist dem Staatssekretär egal. Er sagt: »Ich werde hier kein Opernintendant, das ist nicht meine Aufgabe.« Seine Aufgabe ist es, die Theater zum Sparen zu bringen, seine Argumente sind die Zahlen. 65 Milliarden Euro Schulden hat das Land Schleswig-Holstein, wenn man den Anteil an der Bundesschuld und die Kommunen mitzählt. »Und das steigt weiter an«, sagt er und hebt die Hände stufenweise in Richtung Decke. »Letzte Ausfahrt Griechenland!«
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Lübeck. Noch so eine Stadt in Schleswig-Holstein, die sparen muss. Der Theaterdirektor heißt Christian Schwandt, ist 48 Jahre alt, arbeitete früher als Steuerberater in Mecklenburg-Vorpommern und beriet dort auch Theater.
Dass Steuerberater Theaterdirektoren werden, ist in Deutschland unüblich. Aber man wollte in Lübeck keinen Intendanten, der in Verhandlungen immer wieder sagt, Kunst sei halt teuer. In Lübeck ist Schwandt der Chef, und wenn er über den Generalmusikdirektor redet, sagt er liebevoll: »Mein GMD«, und wenn der Generalmusikdirektor über den Chef redet, sagt er neutral: »Der Schwandt.« Sie teilen sich eine Sekretärin, die Zusammenarbeit funktioniert.
Schwandt hat gerade tausend Seiten gelesen, das ganze Tagebuch des Feuilletonisten Fritz J. Raddatz. Den Raddatz gelesen zu haben ist Schwandt wichtig. Offenbar möchte er nicht, dass man ihn für einen typischen Steuerberater hält. Zum Essen schlägt er das Buffetrestaurant von Karstadt vor, die Stempelkarte hat er im Portemonnaie."
Konstantin Richter, Die Zeit. Der Kulturkampf.
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